Bulgarien

6 november 2017 - Danube Delta Biosphere Reserve, Roemenië

Nein, der letzte Blog war noch nicht der letzte, wie manche von euch vielleicht dachten… Ich konnte nur nicht warten, euch zu erzählen, dass ich angekommen bin. Es wird noch weiter gebloggt :-)

In Sulina, wo ich mit dem Schiff angekommen bin, blieb ich 2 Nächte, wobei sich der Kontakt mit dem Pensionsbesitzer auf das Zimmer zeigen und das Geld kassieren beschränkte. Das Städtchen (ca. 3500 Einwohner) vermittelt auf den ersten Blick einen etwas trostlosen Eindruck, der sicher noch durch die Abwesenheit der Touristen und damit die Schließung von Gaststätten und einiger Pensionen verstärkt wird. Die Saison ist jetzt wirklich vorbei, ich merke nochmal einen deutlichen Unterschied, verglichen mit vor zwei Wochen.

Der festgelegte Kilometer 0 befindet sich schon lange nicht mehr an der Mündung ins Schwarze Meer, denn jedes Jahr wächst das Delta bis zu 40 Meter (!) ins Meer hinein.

In Sulina erlebe ich einen emotional schweren Tag. Ein einsamer Pilger, erwarteten und unerwarteten Konfrontationen ausgesetzt.

Inzwischen habe ich einen wunderbaren Platz in Crişan gefunden, einem 400-Seelen-Dorf, ebenfalls im Delta. Ich wurde warm empfangen und bekomme jeden Tag herrliches Essen. Wahrscheinlich werde ich ein paar meiner verlorenen Kilos bereits wieder angegessen haben, wenn ich nach Hause komme. Dieses Dorf besteht aus einer 8 km langen schmalen geraden Straße am Fluss entlang, dahinter eine Reihe Häuser. So wie bei uns die Autos vor den Häusern auf der Straße stehen, liegen hier die Boote vor den Häusern im Wasser. Man braucht hier keine Autos, das nächste Dorf ist sowieso nur übers Wasser zu erreichen. Es gibt eine kleine Schule hier, die Kinder fahren mit ihren Fahrrädern nach Hause oder werden mit dem Boot abgeholt… Ganz „normal“. Es scheint auch ganz normal zu sein, dass im Winter die Donau zugefroren ist, und die Verbindung zur „Außenwelt“ per Hubschrauber geschieht. Keine Touristen, keine Fische, keine Einkünfte. Man zuckt die Schultern, so ist es halt. Beeindruckend.

So, jetzt ist wieder ein Zeitsprung angesagt, das seid ihr ja inzwischen gewöhnt. Es geht jetzt nämlich wieder ungefähr 3 Wochen zurück bis Mitte Oktober, denn ihr habt ja noch meine bulgarischen Erlebnisse zugute! Seid ihr soweit?

Wie gesagt, vor Bulgarien und Rumänien wurde ich am meisten gewarnt. Ich bin sogar von Rumänen vor den Bulgaren gewarnt worden und umgekehrt! Tja.

Aber, um es schon mal vorwegzunehmen: ich kann leider immer noch keine Schurkengeschichten erzählen… weder bulgarische noch rumänische… es sei denn, das dicke Ende kommt noch…

Es gab in Bulgarien genauso viele Gründe, mich zu bedanken: благодаря (auf Deutsch: blagodarya). Eines der ersten Worte, die ich begriff, war „sama“. Das wurde ich oft gefragt, dabei wurde 1 Finger in die Luft gestreckt und ich mit großen fragenden Augen angeschaut. Ob ich wirklich alleine wäre, wurde dann nochmal wiederholt.

Erinnert ihr euch an meinen „Frachtschiff-Versuch“ in Vidin, der ersten Stadt nach der serbisch/bulgarischen Grenze? Da dies bekanntlich nicht geklappt hat, konzentrierte ich mich auf den Zug. Die Fahrt führte mich etwas ins Landesinnere, über Vraca, einer netten Stadt am Fuß des Balkangebirges, wo ich einmal übernachtete, und am nächsten Tag über Pleven nach Ruse fuhr.

Zugfahren ist ebenfalls eine gute Möglichkeit, Land und Leute ein bisschen kennenzulernen. Der Fahrradtransport ist kein Problem, mein Rad wird einfach mitsamt dem ganzen schweren Gepäck durch die letzte Tür am hinteren Wagen gehievt. Und was sehe ich? Ich befinde mich in einem ausrangierten deutschen Interregio! (In der Slowakei habe ich übrigens viele holländische Arriva-Busse der älteren Generation gesehen.) So ausrangiert, dass während der Fahrt regelmäßig die Tür ins Freie aufspringt, und ich sicherheitshalber schnell mein Fahrrad extra befestige. Scheppernd und ratternd klettern wir die bulgarischen Höhen hinauf. Mächtige Berge mit Schnee! Muss ganz schön kalt sein da oben, wenn der Schnee der ganzen Sommersonne trotzt. Pures Genießen.

Ich brauche den ganzen nächsten Tag, um die schätzungsweise 250 km von Vraca nach Ruse zu überbrücken. Was für ein Erlebnis! Zweimal umsteigen, jedes Mal wird mir eine andere Zeit für den Anschlusszug gesagt. Langsam wird mir deutlich, dass einfach ein Zug ausgefallen ist. Das passiert bei uns ja auch manchmal, aber wie unterschiedlich sind die Reaktionen! Hier dauert es dann nicht eine halbe Stunde, bis der nächste Zug kommt, sondern 2 Stunden, aber alle sitzen ganz gelassen in der noch einen sozialistischen Hauch ausstrahlenden Bahnhofshalle und warten ab. Eine ältere Frau nimmt mich unter ihre Fittiche, sie muss ebenfalls mit demselben Zug. Ich hätte genügend Zeit, mich in dem Städtchen Mezdra umzusehen, aber ich traue mich doch nicht allzu weit weg, man weiß ja nie, ob nicht doch plötzlich ein Zug kommt… Auf dem Bahnhofsvorplatz ertönt auf einmal Musik, und ich sehe eine kleine Hochzeitsgesellschaft bei einem Tanz. Die Braut ist deutlich zu erkennen, aber ist der junge Mann, der den Tanz anführt, der Bräutigam, oder muss der noch erscheinen? Er hat in einer Hand einen Zweig, an dem ein weißes Hemd hängt. Vielleicht kann Esther uns diese Tradition erklären. (Siehe Video)

Es ist schon dunkel, als ich endlich in Ruse ankomme. Am Bahnhof holt mich Heike ab! Meine Reisegefährtin von „früher“ (zur Erinnerung: sie fuhr beim Kraftwerk Eisernes Tor auf die rumänische Seite) hatte mich wissen lassen, dass sie bei Ruse wieder die Donau überquert und ob ich auch zufällig in der Nähe sei. Was ist das Wiedersehen schön! Heike hat eine günstige zentral gelegene Airbnb-Wohnung gemietet, da bleiben wir ein paar Tage und genießen wieder unser unkompliziertes Zusammensein. Gemeinsam essen, herrlich!

Ruse ist eine schöne, lebendige Stadt, mit ungefähr 145 000 Einwohnern. Sie wird als eine der hübschesten Städte des Landes beschrieben, als Donauperle Bulgariens. Im Zentrum sind viele Wohn- und Geschäftshäuser Anfang des 20. Jahrhunderts von österreichischen Architekten entworfen worden, was der Stadt außerdem den Namen „Klein-Wien“ eingebracht hat. Sollte das der Grund sein, warum sie uns so vertraut erscheint?

In den Straßen wird bereits Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt (Mitte Oktober wohlverstanden). Das erinnert mich daran, dass die Regale in den holländischen Läden schon längst mit den unvermeidlichen Pepernoten gefüllt sind, und dass wahrscheinlich am Wochenende, wenn ich wieder zu Hause bin, der Nikolaus auf seinem Pferd mit dem Schiff eingefahren kommt (das geschieht immer 3 Wochen vor dem Nikolausfest, so dass sich die Kinder auch lange genug freuen können..).

Heike und ich verlassen gemeinsam Ruse und fahren noch einen Tag zusammen, in ein Städtchen mit dem schönen Namen Tutrukan. Ich trete nach fast einer Woche Pause voll frischer Energie und Lust in die Pedale. Der Platz auf dem Fahrrad, das Gewicht meiner Taschen und die damit verbundene Stabilität – es fühlt sich so vertraut an! Es ist herrliches Wetter, wir radeln durch ein wunderschönes Gebiet, was will man mehr?

Am nächsten Tag ist dann die Zeit für den (vorläufig) endgültigen Abschied gekommen. Heike schwenkt nach Süden ab Richtung Istanbul, ich folge mit einer Abschiedsträne im Auge weiter der Donau. Auf vollkommen ruhigen Straßen, rauf und runter. Ich habe Zeit, ich schiebe mich und mein Fahrrad gemütlich hoch, ich kann mich in aller Ruhe umschauen, ich nehme die Stille wahr, die lediglich durch aufgeschreckte Rebhühner unterbrochen wird. Wieder eine Träne, dieses Mal wegen der Schönheit und Intensität des Augenblicks.

Ich komme durch ein Dorf, das beschrieben wird als „traditionelles ärmliches Dorf, in dem es kaum ein Zeichen der modernen Welt gibt.“ Es wirkt tatsächlich so, als wäre es irgendwie vergessen geworden. Die Menschen sind sehr freundlich, ich darf sogar die kleine Moschee anschauen und fotografieren.

Ein weiteres besonderes Erlebnis rundet diesen Tag ab: ich bin mal wieder am Schieben (zwischen jedem Dorf haben sie hier einen Hügel gebaut… haha…), kommt doch tatsächlich ein Cowboy vorbeigeritten! Wir haben versucht, mich anzuseilen, so dass mich die Pferdestärke den Berg hochziehen kann, mussten es aber nach mehreren Versuchen aufgeben, es war doch zu schwierig, das Gleichgewicht zu halten, man wird ja nicht jeden Tag vom Pferd abgeschleppt…

Aber, und das kam eigentlich wie gerufen, das Ganze führte zu einer gratis Übernachtung.

Noch ein Tag Radeln, dann bin ich schon wieder an der nächsten Grenze. Irgendwie hat es sich so eingespielt, dass ich immer kurz vor dem „Übergang“ nochmal eine Nacht im „vertraut“ gewordenen Land verbringe. In Bulgarien ist das Silistra, gleich dahinter befindet sich der Grenzübergang nach Rumänien. Auch dies wieder eine schöne, interessante Stadt wie ich finde, in der viele unterschiedliche Kulturen und Religionen ihre Spuren hinterlassen haben.

Bevor ich dort jedoch ankomme, muss ich mich durch meine schwersten 5 Kilometer kämpfen. Den Weg durch den Wald solle man auf jeden Fall bei schlechtem Wetter vermeiden, lese ich. Da es seit ewigen Zeiten nicht mehr geregnet hat, beginne ich voll Vertrauen meine Tour durch die Natur… und werde dann auf halbem Weg durch große Schlammpfützen doch ziemlich überrascht. Ich manövriere uns (mich mit meinem Hab und Gut…) erfolgreich durch, an Fahren ist schon lange nicht mehr zu denken, die Pfützen werden immer größer, und auf einmal stehe ich vor einem umgefallenen Baum, der den ganzen Weg versperrt! Links und rechts des Weges ist sowieso kein Durchkommen. Auf wundersame Weise finde ich doch ein Schlupfloch, durch das wir uns mit Müh und Not zwängen können. Aber die Prüfung ist noch nicht bestanden… danach geht es so dermaßen steil bergauf, dass mich fast der Mut und die Kraft verlassen. Irgendwie geht es, Meter für Meter, mit unzähligen Pausen. Und irgendwann komme ich oben an, fix und fertig, gefühlsmäßig mindestens 1 Kilo leichter…

Verzeiht mir bitte die ausführliche Beschreibung, die Erinnerung daran scheint noch sehr lebendig in meinem Gedächtnis zu sein…

In Silistra gönne ich mir gleich einen zusätzlichen Ruhetag. Es ist noch wunderbar warm, 26 Grad, aber ich bin so gut wie die einzige, die in kurzen Hosen herumläuft, viele haben sogar relativ dicke Jacken an. Was zieht man wohl im Winter an, hier ist es doch um einiges kälter als bei uns? Ich frage jemanden, warum man bereits so warm gekleidet ist, und bekomme eine ebenso verblüffende wie einfache Antwort: Es ist doch Oktober!

Möglicherweise ein Überbleibsel aus kommunistischen Zeiten? Ab Oktober wird geheizt, nicht früher, aber auch nicht später…

Wiederum reich an vielen Erfahrungen und Erlebnissen passiere ich den nächsten und bis jetzt letzten Grenzübergang.

Heute ist Sonntag, 5. November, morgen verlasse ich Crişan und fahre zurück nach Tulcea, denn Tom ist bereits unterwegs und wird am Dienstag dort eintreffen. Gute Fahrt für die letzten paar hundert Kilometer, Tom!

Ja Mieke, ich kann mir sicher etwas darunter vorstellen, wie seltsam es sein wird, in einem geschlossenen Fahrzeug und mit unnatürlich schnellem Tempo die ganzen Fahrradkilometer zurückzufahren. Das war auch mit ein Grund, warum ich auf keinen Fall fliegen wollte. Und wir haben für die Rückfahrt eine gute Woche Zeit, das mildert die Umstände…

Ihr hört nochmal von mir, wenn ich zu Hause bin. Habt es gut, ihr alle!

1 Reactie

  1. Geli:
    8 november 2017
    Wow, jetzt bist Du schon auf Deinem Rückweg, liebe Anne. Ich war oft in Gedanken bei Dir, besonders als Du in Ungarn unterwegs warst - ich war übrigens mit Rob zur selben Zeit in Ungarn, nur nicht im gleichen Gebiet. Schön, dass Du alles so wundervoll geschafft hast! So wie Du berichtet hast, könntest Du gleich noch einen Reiseführer schreiben - so gut nachvollziehbar liest sich alles. Ich fühle mich manchmal als würde ich mitfahren. Geniesse die Heimreise und die letzten Tage!
    Beste Grüßle