Intermezzo (D)

11 augustus 2023 - Raate, Finland

Oh ihr Lieben, ich komme kaum noch nach, so viel erlebe ich in letzter Zeit, wie soll ich das bloß alles teilen können… Ich sitze oft auf dem Fahrrad und erzähle euch in Gedanken meine Erlebnisse.

Aber wo ich doch gestern Abend gelandet bin, das muss ich euch zwischendurch mitteilen! Nämlich im Gästehaus neben dem Grenzschutzmuseum, nahe der russischen Grenze. Das Gebäude ist das älteste und einzige erhaltene, schon vor dem Krieg erbaute Wachtgebäude Finnlands. Der Wachtposten wurde von Soldaten dreier Mächte benutzt. Erst war er die finnische Grenzschutzstation, im Winterkrieg diente er den Sowjets und im Fortsetzungskrieg den Deutschen. Das Museum zeigt das restaurierte Gebäude, wie es in den 1930er Jahren aussah.

Das Gästehaus also: eine wunderliche Mischung aus altmodisch, orthodox (überall hängen Heiligen- und andere christliche Bilder, liegen Bibeln und stehen Plastikblumen), entspannten, sehr freundlichen Mitarbeitern. Familiäre Atmosphäre. Heute Morgen beim Frühstück sitzt ein lutherischer Priester am Nebentisch, mit dem ich mich ein bisschen unterhalten kann (sonst sprechen nicht so viele Leute englisch). Zwischendurch preist er immer wieder The Lord. Er wohnt nicht hier, aber es scheint, als ob er das Sagen hat. Als ich beschließe, noch eine Nacht zu bleiben, nennt er einem Mitarbeiter, bei dem ich anschließend abrechne, einen niedrigeren Preis. Gerade hat er mich zu einer religiösen Feier heute Abend eingeladen, die er hier im Haus veranstaltet… Weiß nicht so recht, ob es mir die Höflichkeit gebietet, mitzumachen.

Hier gleich nebenan steht der Wachtturm, den man besteigen kann, und wo aus man nach Russland sieht. Naja, es sieht natürlich nicht anders aus als auf dieser Seite. Ich stelle auch bald meine Fotos von hier auf die Site, dann könnt ihr euch alles vielleicht ein bisschen besser vorstellen.

Gestern hatte ich eine ziemlich schwere Tour, aber das wusste ich zum Glück am Anfang noch nicht. Davor war ich zweieinhalb Tage an einem wundervollen Platz bei Rauni und Heikki, einem Paar ungefähr in meinem Alter, die das großelterliche Haus in jahrelanger geduldiger Arbeit und Liebe renoviert und erneuert haben. Davon erzähle ich später.

[Ich sehe wohl auch schon so aus, als ob ich hierher gehöre… während ich hier tippe, werde ich von einem anderen Besucher angesprochen und gefragt, was es zu essen gibt…]

Ich zog also gestern wohlgemut um die Mittagszeit los, nachdem ich den Regen größtenteils abgewartet hatte. Es waren ungefähr 70 km, am Schluss wurden es umständehalber 80. Die ersten 45 km gingen ganz gut, Regen hatte aufgehört, geteerte Straße, nicht zu heftig auf und ab. Danach auf eine Schotterstraße. Es gibt ein paar asphaltierte Straßen, auf denen ich auch oft fahre, und eben nicht asphaltierte, und da gibt es auch wieder Unterschiede. Manche sind fest und gut befahrbar, manche weniger. Der gestern gehörte zu der zweiten Kategorie… auf den einigermaßen ausgefahrenen Spuren lagen immer noch viel Steine, das kostet Kraft und Zeit, heute schmerzt auch mein linkes Handgelenk. Einmal blieb ich einfach im Kies stecken. Aber langsam wurde es besser. Kein Mensch unterwegs, halt stimmt nicht, ein Mountainbiker begegnete mir. Auf einmal hörte ich ein Geräusch von einem nahenden Güterzug, so klang es jedenfalls, denn es gibt natürlich weit und breit keine Eisenbahnschienen. Ein riesiges Gefährt mit Anhänger kam hinter mir her und hielt an. Von hoch über mir schaute ein Uniformierter auf mich herab, vermutlich ein Grenzwächter, fragte woher ich komme, wohin ich gehe und welche Nationalität ich habe. Ja ich sei auf dem richtigen Weg zum Gästehaus, noch 10 km. Verabschiedete sich und fuhr weiter mit seinem Gefährt. Er lachte sich ganz bestimmt ins Fäustchen, denn er wusste natürlich, was danach kam, warnte mich aber mit keinem Wort. Ich musste durch ein Feuchtgebiet, der Weg wurde zum Teil so matschig, dass nur „Augen nach vorne und in die Pedale“ half. Zudem wimmelte es auf einmal von (russischen?) Schnaken! Was war ich froh mit meinen breiten Profil-Reifen, sonst hätte ich ein paar Mal im Matsch gelegen...

Als ich fix und fertig spät abends hier ankomme (konnte nirgends eine Telefonnummer finden, nur eine Mailadresse, in die keiner reinschaut, auch so was…), werde ich willkommen geheißen von einer sehr freundlichen Frau, mit einer auf einem Glas zugeklebten Brille, die gleich alle meine Fahrradtaschen nach oben trägt, mir mein Zimmer zeigt (ebenfalls im Stil des Hauses, und mit einer besonderen Bettwäsche, siehe Foto), und erklärt, dass etwas nicht stimmt mit der Heizung, und dass es dadurch in der Toilette und der Dusche sehr warm ist. Schwer untertrieben! Heute habe ich gesehen, dass der Kleber auf der Brille ein Bildchen einer Kuh ist. Milka, so heißt die Frau (wirklich!), hat mich schnell in ihr Herz geschlossen und mich zu ihrem Schutzengel erklärt, sie erzählt mir ziemlich persönliche Dinge. Sie ist sehr gläubig, hat ein großes Herz, hält nicht so viel von sich, das ist sehr schade, und überhaupt nicht nötig.

Und dann läuft noch einer fröhlich singend herum, der an der Art Rezeption sitzt und das Café betreibt. Er spricht kein englisch, bietet mir aber ständig was zum Essen und Trinken an. Vom Priester höre ich, dass es sein letzter Arbeitstag in diesem Jahr ist. Nächstes Jahr arbeitet er wieder ein paar Monate lang hier. Morgen früh scheint von hier aus ein Marathon zu starten, dieses Happening kann ich dann also auch noch mitmachen.

Heute ist Freitag, der 11. August, gerade noch. Wenn es so weitergeht, komme ich nicht wirklich voran… haha… Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass ich gerade dadurch viel Kontakt bekomme, weil ich mir Zeit nehme. So habe ich viel mehr das Gefühl, das Land und die Menschen ein bisschen kennenzulernen. Ich habe es nicht extra erwähnt, aber ihr hört wahrscheinlich, dass es mir gut geht! Meine körperliche Kondition ist nicht so stark (außer gestern), meine mentale schon… :-)

Viele liebe Grüße, bis zum nächsten Mal!

Foto’s

3 Reacties

  1. Birgit aus Künzelsau:
    12 augustus 2023
    Nadelbäume, soweit das Auge reicht und eine Kuckucksuhr an der Wand!!!
    Liebe Anne, vielleicht bist du doch im Schwarzwald unterwegs???
    Schön, von dir zu lesen und:Gott sei Dank geht es dir gut!
    Danke, dass du uns teilhaben lässt! Unsere Bewunderung ist dir sicher!
    Wir starten am Montag den Neckartalweg 😄 - sicher auch schön!
    Viele liebe Grüße und beste Wünsche für dich auf deinem weiteren Weg!
    Birgit und Walter
  2. Anne Haiber:
    13 augustus 2023
    Schön von euch zu hören, liebe Birgit und Walter!
    Haha.. ihr seid die ersten, die den ganzen Schwindel erkennen...
    Am Neckar entlang? Toll, viel Spaß! Ihr seid ja recht sportliche Radler, viel mehr als ich. Dafür braucht ihr mich wirklich nicht bewundern.
    Ihr könnt einen kleinen Abstecher machen und meine Mutter in Burladingen besuchen, das würde sie ganz bestimmt freuen!
    Sie wohnt immer noch im gleichen Hause, Nr. 28. Ik November wird 100.
    Liebe Grüße! Anne
  3. Klaus Peter Temmes:
    20 augustus 2023
    Hallo Anne, wir sind begeistert und ganz bei Dir und Deiner "wilden" , ereignisreichen Tour. Weiterhin gute Begegnungen und stets die richtige Nase dafür.

    liebe Grüße vom extrem schwülen Dorfbach, Klaus und Andrea