Städtetrip...

31 juli 2023 - Savukoski, Finland

Liebe Leute,

Bis jetzt gleicht meine Reise mehr einem Städtetrip als einer Radtour, mit dem Fahrrad als einem lästigen, sperrigen Gepäckstück.. haha..

D.h. ich muss sagen, glich, denn seit zwei Tagen bin ich tatsächlich mit meiner geschichtlichen Tour am Eisernen Vorhang begonnen! Der Ort, von dem aus ich gestartet bin, heißt Sodankylä, das ist etwa 100 km nördlich von Rovaniemi, und das wiederum ist die Hauptstadt von Lappland, hoch oben am Polarkreis! Der „offizielle“ Beginn der Route, bei der Barentssee ist nochmal 400 km weiter nördlich. Es hätte mich schon gereizt, die raue Landschaft, die See, die nachtlose Nacht zu erleben, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätte es wieder ein paar Tage gebraucht, und dann mit dem Fahrrad wieder zurück.. Hatte noch die Idee, ein Auto zu mieten für zwei Tage, aber das war recht kostspielig, weil es über die Grenze zu Norwegen geht, und ich hatte auch Lust an meiner Radtour zu beginnen. So ist es auch gut. Und auf dem Campingplatz hat mir einer gesagt, dass es auch wieder nicht so spektakulär sei, wie man es sich vorstelle. Oke. Außerdem war es in Sodankylä auch schon fast die ganze Nacht hell. Um 1 Uhr konnte man z.B. noch ohne Licht lesen. Verrückte Erfahrung.

Die Entfernungen hier sind unglaublich groß. Keine Überraschung natürlich, so gut habe ich die Karte schon angeschaut vorher, aber es ist nochmal beeindruckender, hier zu sein. Am ersten Fahrradtag lag das nächste „richtige“ Dorf 50 km weiter. Dazwischen wohnen schon auch Menschen, man sieht am Waldrand ein paar freundlich dreinschauende Häuser, oder am Anfang eines Waldweges ein paar Briefkästen, irgendwo dahinter wohnen demnach auch Menschen, irgendwie beruhigend... Auf größeren Straßen, die ich manchmal benutzen muss, darf man 80 oder 100 km/h fahren, aber die Autos fahren mit genügend Abstand an mir vorbei. Im ersten „richtigen“ Dorf also, wirklich einem Mini-Dorf, erwartet mich eine Überraschung. Es ist ein Skisportzentrum, und das bedeutet teure protzige Hotels! Ich habe eine sehr nette Alternative von einem Paar angeboten bekommen. Ich durfte in einem Zelt (Marke Partyzelt) schlafen, zwischen den selbstgestrickten und -gefilzten Sachen, die sie tagsüber an die Touristen verkaufen. Und das auf dem Parkplatz des teuren Hotels… Sowas erlebt man ja auch nicht jeden Tag!

Ich habe natürlich auch mein eigenes Zelt dabei, das kann ich immer irgendwo aufschlagen, wenn’s nötig ist. Ansonsten genieße ich schon den Komfort von Strom und fließendem Wasser muss ich sagen. Ich mag vielleicht eine Lebenskünstlerin sein, aber eine Überlebenskünstlerin eher nicht, und wenn’s drauf ankommt, ist das Letztere doch wichtiger… Heute bin ich sehr froh mit meinem gemütlichen Zimmer an einem See, sowieso jetzt, wo es draußen gerade in Strömen regnet.

Ich erlebe die Menschen hier sehr freundlich und hilfsbereit, wenn man sie was fragt, bescheiden auch. Als ich z.B. spätabends in Rovaniemi ankam, hatte ich kurzzeitig keine Internetverbindung und fragte eine junge Frau nach dem Weg zum Hostel. Sie zeigte ihn mir, und nach einer ganzen Weile kam sie außer Atem angeradelt, weil sie gemerkt hatte, dass es der falsche Weg war.

Es scheint doch ein etwas ungewöhnliches Unterfangen zu sein, ich sehe nämlich keinen einzigen bepackten Radfahrer. Wohl ein paar Mountainbikers, die vielleicht ihren Camper oder Wohnwagen in der Nähe stehen haben, und mich etwas verwundert anschauen. Man muss entweder ganz ganz viel Zeit haben, oder viel schneller radeln als ich, oder eben mit Auto, Motorrad oder Camper unterwegs sein. Kann mir sehr gut vorstellen, mit einem Camperle nochmal hierher zu kommen. Aber jetzt schaue ich erstmal, wie weit ich dieses Jahr komme, die ersten zwei Tage habe ich nicht mehr geschafft als 50 km am Tag. Ich bin ziemlich müde, und meine Beine wundern sich, was sie auf einmal tun sollen. Also mache ich halt langsam, und ruhe mich aus, wenn mein Körper danach verlangt. (Der ist natürlich auch wieder ein paar Jahre älter geworden seit dem letzten Mal, und reisen kann einfach anstrengend sein…). Es geht mir aber gut. Als ich in Sodankylä angekommen bin, mit dem Bus von Rovaniemi aus etwa eineinhalb Stunden, legte sich die Stille und Weite „auf dem Land“ wie eine angenehme Decke über mich. Ich habe mir auf dem Campingplatz ein Mökki gegönnt, eine kleine einfache Holzhütte mit einem Stockbett, Kühlschrank, Kaffeemaschine, Herdplatte, herrlich! Noch lange draußen in der (nicht untergehen wollenden) Sonne gesessen. Und als ich mich am Tag danach bei strahlendem Sonnenschein auf mein vertrautes Fahrrad setzte, fühlte sich das wundervoll an.

Finnland, das heißt Bäume Bäume Wald Bäume Wald Wasser Seen Nationalparks lange kilometerlange gerade Strecken … usw. und das von hier aus noch etwa 1300 km… hier in Lappland überqueren zur Abwechslung ab und zu ein paar Rentiere in aller Seelenruhe die Straße. Wie es weiter im Süden zugeht, weiß ich noch nicht. Ich möchte es schon eine Weile mitmachen - die Landschaft tut bestimmt was mit einem - wahrscheinlich aber nicht die ganze Strecke, irgendwann reicht’s vielleicht mal. Und ich möchte auch gern noch ein Stück von der Ostseeküste fahren. Die kleinen Inseln um Estland herum z.B. sollen sehr schön sein. Es hängt auch vom Wetter und allem möglichen anderen ab, wie’s weitergeht. Heute Nacht ist das Wetter umgeschlagen, es regnet und windet und ist ein paar Grade kälter. Ich schaue von Tag zu Tag. Allerdings muss ich ein bisschen weiter denken als meine Nase lang ist… Wo gibt es die nächste Einkaufsmöglichkeit, Übernachtung? Man fährt nur ungern 20 km weiter, weil man vergessen hat, seine Vorräte rechtzeitig aufzufüllen. Daran muss ich mich noch gewöhnen.

Apropos Bäume und Wald: ich finde in der finnische Flagge – blaues Kreuz auf weißem Hintergrund, das die Seen und den Schnee symbolisieren – fehlt eindeutig die Farbe grün. Wo man hinguckt, sieht man grün! Oder widerspricht das so sehr dem ästhetischen Farbverständnis der Finnen, dass sie darauf bewusst verzichtet haben?

Ich fühle mich übrigens absolut sicher hier, in den Baltischen Ländern ebenso. Eine Finnin sagte mir, wenn man irgendwo etwas liegengelassen hat in Finnland, egal was und wie wertvoll, man bekommt es zurück. Finnland ist ja anderen europäischen Ländern in vielem weit voraus, z.B. im Schulsystem, oder in der Emanzipation von Männern und Frauen. Finnland war das erste europäische Land mit dem Frauenwahlrecht, der ersten Frau als Präsidentin und dem (sogar weltweit) ersten Ministerpräsidenten, der Elternurlaub nahm. Und gerechter. Ich habe z.B. gelesen, dass die Bußgelder für zu schnelles Fahren anteilmäßig berechnet werden. Dann kann es sein, dass ein Millionär 100 000 € bezahlen muss. Stimmt das wirklich Annamari? Mit Berücksichtigung der Relativität solcher Untersuchungen ist es vielleicht doch bezeichnend, dass die Finnen als die glücklichsten Menschen gelten. Allerdings sieht dieselbe Finnin von vorhin mit etwas Sorge in die Zukunft, da jetzt mit der neuen Regierung ein deutlicher Ruck nach rechts stattfand.

Im letzten Bericht waren wir in Tallinn stehengeblieben. Ich war in der Tat noch im Fernsehturm, etwas außerhalb der Stadt, bevor ich gegen Abend nach Helsinki ging, etwa 2,5 Stunden mit der Fähre. Der Turm spielte eine wichtige Rolle bei den Ereignissen im August 1991. Moskau versuchte, die Unabhängigkeitsbestrebungen Estlands zu unterdrücken. Es schickte eine gepanzerte Kolonne nach Estland, die die Kontrolle über strategisch wichtige zivile Objekte, darunter den Fernsehturm von Tallinn, übernehmen sollte. In der Ausstellung dort lese ich: „Die Rüstung kam am 20. August an. Am späten Abend desselben Tages erklärte sich Estland durch Beschluss des Obersten Rates für unabhängig. Am frühen Morgen des 21. August brachen sowjetische Fallschirmjäger die Tore ein und griffen den Fernsehturm an. Dank der List der zum Schutz des Fernsehturms versammelten Menschenmenge und der Tapferkeit der vier estnischen Männer, die das Kommunikationszentrum im 22. Stock bewachten, war es möglich, die Funkübertragung und die Kommunikation mit der Außenwelt bis zum Ende des gescheiterten Putsches am Abend desselben Tages aufrechtzuerhalten. Estlands Weg zur freien Nation war endlich offen.“ Was für ein Mut! Es hätte auch ganz anders ausgehen können. Estland feiert seitdem alljährlich am 20. August die Wiedererlangung der Freiheit.

In Tallinn traf ich eine Frau aus St. Petersburg und fragte sie nach der Situation in der Stadt. Sie zuckte mit den Schultern. Es sei alles schon schlimm, was passiere, aber man beschäftige sich so wenig wie möglich mit Politik. So etwa die Zusammenfassung. Ob sie wisse, ob man als Ausländer derzeit ein Visum bekomme, fragte ich sie. Das sei kein Problem, es dauere lange, aber nicht länger als sonst auch. Fast tut es mir Leid, dass ich keines beantragt habe. Der estnische, immer gut gelaunte Mann an der Rezeption des Hostels sagt lachend: wir als Esten bekommen zur Zeit bestimmt kein Visum, wir sind für Russland der Teufel.

Danach also Helsinki. Trotz Großstadt (ca. 660 000 Einwohner) eine gemütliche, entspannte Atmosphäre, viele junge Leute, moderne Stadt. Aber es ist Sommer, und in den paar kurzen warmen Monaten wird alles nach- und vorgeholt, was möglich ist, jede Sonnenstunde ausgenutzt. Es gibt z.B. einen Sommercarneval, dazu ist es im Winter einfach zu kalt. Ich habe es neulich zu jemandem hier in Lappland im Norden gesagt, dass ich es so entspannt fand in Helsinki. Ja, sagte sie, das ist nur in der Urlaubszeit, sonst sind die Leute im Süden viel gestresster. Da sieht man mal wieder, alles ist relativ … Ich bin mir bewusst, dass jede meiner Erfahrungen nur ein kurzer winzig kleiner Ausschnitt aus dem Ganzen ist.

In den zwei Tagen, die ich in Helsinki war, habe ich viel Schönes und Kreatives gesehen. Und Holländer habe ich dort auch wieder gesehen, ich fragte mich nämlich schon, wo sie denn geblieben sind ;-)

Jede dieser Städte, in denen ich war, ist es wert, nochmal zurückzukommen und länger zu bleiben. Und in Riga war ich noch nicht mal. Von Helsinki aus nahm ich den Zug nach Rovaniemi, mehr als 800 km nördlich davon. Neun Stunden sehr entspannte Fahrt, im Hundeabteil. Das gibt es tatsächlich, und es stiegen auch ziemlich viele ein, sogar eine Katze war dabei. Aber alles ging ganz friedlich zu. Man scheint hier automatisch eine Platzreservierung mit der Fahrkarte zu bekommen, Tiere, Fahrräder und ihre Besitzer gehören wohl in dasselbe Abteil.

Rovaniemi, Hauptstadt von Lappland wie gesagt, wurde im Lapplandkrieg (Sept. 44 - April 45) fast vollständig niedergebrannt, die Stadt bestand hauptsächlich aus Holzhäusern. Die Wehrmacht verbrannte und zerstörte auf ihrem Rückzug alles, was sie zerstören konnte (Taktik der verbrannten Erde).

Ich lese gerade „Lempi“ von Minna Rytisalo. Der Roman spielt sich hier in Lappland ab, es geht über eine Liebe im Zweiten Weltkrieg, über Krieg und Schicksal. Erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven. Sehr empfehlenswert! Leider nur auf finnisch oder deutsch. Ich lese es auf finnisch, so lerne ich die Sprache gleich… Haha… das wäre was, ich würde verzweifeln, noch bevor ich auch nur einen einzigen Satz entziffert hätte. In Litauen und Estland konnte ich schon nichts verstehen, aber hier kann ich überhaupt gar nichts aus irgendeinem Wort machen! Man lernt natürlich schon, dass danke „kiitos“ heißt und vielen Dank „kiitos paljon“, und ich habe die Zahlen von 1 bis 5 gelernt, aber wenn ich das nicht immer wieder mal übe, vergesse ich es wieder. Yksi, kaksi, kolme, nejlä, viisi. Merke dir das mal!

In Helsinki steht das meiste auch auf schwedisch geschrieben, da kann man zumindest noch einigermaßen fantasieren, was es bedeuten könnte. Die finnische Sprache klinkt freundlich finde ich, manchmal fast ein bisschen schweizerisch, mit vielen Umlauten und „i" am Schluss, jedoch weniger melodiös.

Oja, zum Schluss noch kurz ein wichtiges Thema: Schnaken! Das Wort, das fast jeder mit Finnland verbindet.. Ich merke kaum etwas davon, dachte, es liegt sicher an meiner Zederncreme, die ich extra dafür gekauft habe, aber gestern sagte mir ein älteres finnisch-deutsches Paar: Sie haben Glück, dieses Jahr gibt es fast keine Schnaken, normalerweise wimmelt es um diese Zeit hier davon. Puh! Aber vielleicht erwischen sie mich weiter unten im Süden Finnlands doch noch.. Jetzt genieße ich es mal, so lange es geht. Ein paar Mückenstiche habe ich übrigens schon.

Inzwischen ist schon wieder ein Tag vorbei. Der Ruhetag gestern hat mir sehr gut getan, heute hatte ich deutlich mehr Energie. Und das Wetter war mir gut gesonnen. Zwar begleiteten mich den ganzen Tag dicke dunkle drohende Regenwolken, aber außer ein paar Tröpfchen haben sie dicht gehalten.

Ganz herzliche Grüße, passt gut auf euch auf, mache ich auch :-) Und herzlichen Dank für euer Interesse, Mitleben und An-mich-denken!!

10 Reacties

  1. Geva:
    31 juli 2023
    Anna, du Tapfere. Ich seh dich zwischen Seen, Bäumen und viel Grün entlangradeln. Puste den Regen weg! groetjes, Geva
  2. Anne Haiber:
    31 juli 2023
    Haha... genau so! Und heute hat's tatsächlich wieder geklappt mit dem Pusten..
    Der Rollator... ja, der stand da so herren- und frauenlos auf einem Parkplatz in Kiel...
  3. Arie:
    31 juli 2023
    Mooi verhaal en leuk om te lezen.
  4. Marian de groot:
    31 juli 2023
    Hai Anne hardstikke leuk wat en hoe je het schrijft, interessant.
    Zit nu te lezen in het Duits, ist gut fur meine Deutschsprache, maar ga zeker de rest van je verhaal lezen, al dan niet auf Deutsch.
    Well goed hoor die afstanden die je aflegd, maar hoe kom je op het idee?
    Zo zie je maar zorg ken ik je ook niet. Ondanks al die jaren.
    En ik bewonder je nog steeds, speciaal iemand, hahaha 😜
  5. Anne Haiber:
    31 juli 2023
    Ha Marian, dank je wel. Hoe ik daarop kom? Moet je naar "Alle reisverhalen" gaan in het groene veld. In het bericht "Waarom IJzeren Gordijn" heb ik het uitgelegd, geprobeerd althans...
    Heb het goed daar in het Nijmeegse!
  6. Dick kortekaas:
    1 augustus 2023
    Heerlijk verhaal Anne! Ik had wel moeite met de taal, ik lees bij voorkeur Fins en Laps.
    Dick
  7. Anne Haiber:
    4 augustus 2023
    Jokeri ! :-)
  8. Marian de groot:
    1 augustus 2023
    Yes l will!!
  9. Gerhard Seider:
    2 augustus 2023
    Hallo Anne,
    hab deinen Bericht grad mit Spannung gelesen. Klingt sehr interessant, was du erlebst an Natur, Begegnungen, kultureller und politischer Information...
    Gute Reise weiterhin und herzlichen Gruß aus Freiburg, Gerhard
  10. Constance:
    8 augustus 2023
    Ha lieve Anne, wat leuk je avonturen hier te lezen!
    Bijzonder wat je meemaakt en vertelt.
    Ik wens je mooie momenten en zonnige fietsdagen in september