(Nicht nur) Mühsam

24 juli 2023 - Helsinki, Finland

Hallo ihr Lieben,

Ich will euch mal wieder ein bisschen erzählen (naja, ein bisschen, es ist wieder ganz schön viel geworden, ihr braucht wirklich nicht alles zu lesen, wenn ihr keine Lust habt).

In Tallinn, der Hauptstadt von Estland, wo ich vorgestern noch war [jetzt bin ich schon in Helsinki und ziehe auch hier bald wieder weiter… aber das ist eine andere Geschichte… der Reihe nach], hatte ich mir einen extra Tag gegönnt, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Das ist das Schöne an so einer langen Reise, dass man immer wieder mal innehalten und sich Zeit nehmen kann, wenn es nötig ist. Und das war es.

Es ist ein etwas mühsamer Anfang dieses Mal. Ich habe noch nicht mal richtig mit Radeln angefangen, und könnte eigentlich Urlaub gebrauchen… Bei meiner Donaureise konnte ich einfach auf mein Fahrrädle steigen und losfahren. Jetzt versuche ich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrad nach „oben“ zu kommen. Wie ich in meinem ersten Bericht schon schrieb, muss ich ja da erst mal hinkommen. Und das kann man fast eine Odyssee nennen… Hier ein kleiner Ausschnitt: in Klaipeda entschloss ich mich, einigermaßen direkt an die Barentssee zu fahren, bevor es dort zu kalt wird. Auf dem Bahnhof nach Zugverbindungen nach Tallinn informiert, von wo aus ich die Fähre nach Helsinki nehmen wollte, danach mit dem Zug zum Polarkreis, und weiter mit dem Bus, der auch Fahrräder mitnimmt. Das jedenfalls war der Plan. In Klaipeda wurde mir gesagt, nee, nach Lettland und Estland fahren keine Züge, nur Busse. Später sah ich auf einer Karte wohl Zuglinien, aber dann hätte ich wahrscheinlich kreuz und quer fahren müssen (was ich übrigens jetzt auch tat…). Vielleicht meinten sie auch nur direkte Verbindungen. Die Kommunikation verläuft natürlich nicht so reibungslos, die Älteren (plus/minus mein Alter… haha…) sprechen litauisch und russisch, das doch ziemlich anders klingt als englisch, deutsch oder holländisch. Hinter den Schaltern sitzen meistens keine jungen Leute, und diejenigen die da saßen, hatten nicht immer Lust auf eine kreative Kommunikation. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie nehmen es mir übel, dass ich keine litauisch spreche und sie kein englisch. Fahrrad wird mit den Bussen mitgenommen, ja sicher, wird mir bestätigt. Ich mit dem Zug schon mal nach Šiauliai, östlich von Klaipeda, da fährt nämlich ein Bus hörte ich. Waren es Busse ohne Fahrradmitnahme! Naja, und so weiter....

Schlussendlich fand ich einen Flixbus von Vilnius nach Tallinn. Von Šiauliai nach Vilnius wieder ein ganzes Stück südöstlich und fast 4 Stunden Busfahrt Richtung Südwesten (im Zug waren den ganzen Tages keine Fahrradplätze mehr übrig, was ich fast nicht glauben konnte, so wenig Radfahrer wie ich gesehen habe), aber ich wollte die Stadt sowieso anschauen, also mit einem wohlgesonnenen Busfahrer auf nach Vilnius für zwei Tage.

Abends vor der langen Busreise nach Tallinn noch etwas Stress: während des Einpackens fiel in der Herberge auf einmal der Strom auf dem ganzen Stockwerk aus, und zu allem Unglück ließ ich auch noch mein Handy fallen… Bildschirm funktionierte nicht mehr! Da fühlt man sich gleich ganz abgeschieden von der Welt… Zum Glück mein altes Handy mitgenommen, das nicht mehr richtig funktioniert, aber zumindest konnte ich den Wecker stellen, so dass ich wenigstens noch vier Stunden beruhigt schlafen konnte. Nächster Morgen am Busbahnhof, nirgends ein grüner Bus, gerade noch rechtzeitig jemanden gefunden, der wusste, wo er genau abfuhr. Erleichtert und erschöpft auf den Sitz gesunken… 9 Stunden Fahrt, Übernachtung suchen, einkaufen, und die große Frage: wie muss ich mein Handy-Problem lösen? Ich war so fertig, dass ich nicht mehr wusste, was ich einkaufen musste. Es war mir mehr zum Heulen als zum Lachen zumute.

In solchen Momenten vermisse ich einen lieben Reisegesellen, der mich mal in den Arm nimmt, und mit dem ich zusammen Lösungen ausdenken kann. In dem Moment konnte ich mir nicht vorstellen, ganz allein dort oben im fernen Lappland zu radeln, wo die Herausforderungen noch größer sind. Aber das muss ich natürlich auch nicht, ich nehme mir erneut vor, gut drauf zu achten, was ich bewältigen kann, und was ich brauche. An dem Abend, ich war wieder in einem geselligen Hostel, unterhielt ich mich übrigens noch lange mit einem netten Kerl im Alter meiner Jungs, herrlich einfach auf deutsch. Danach ging’s mir schon wieder besser.

Mit meinem Handy ist übrigens ein kleines Wunder passiert: am nächsten Abend funktionierte es auf einmal wieder! Im besten Handyladen der Stadt sagten sie, man könne es nicht reparieren. Ich war schon intensiv mit meinem treuen Waschmachinen-und-anderen-Geräten-Freund Henk am Kommunizieren, wie wir es am besten anpacken können, z.B. er bringt mir sein Reserve Fairphone... haha...

Nach zwei Tagen im freundlichen schönen Tallinn hatte ich wieder Lust auf und Energie für neue Taten. Und natürlich war nicht alles mühsam. Ich begegnete auch netten Menschen und hatte schöne und interessante Erfahrungen. Z.B. lernte ich auf der Kurischen Nehrung eine Schweizerin mit Hund und Camper kennen. Sie bot mir an, mich am nächsten Tag nach Klaipeda zurückzunehmen, was ich gern annahm, sonst hätte ich denselben Weg zurückradeln müssen. Wir standen beide auf dem Campingplatz in Nida, dem letzten Ort vor der Grenze zu Kaliningrad. Es war sehr viel los dort, eine Touristenhochburg. Als wäre alles in Ordnung, und ja, was soll man denn merken, was hatte ich erwartet? Dass die Leute mit angsterfüllten Augen umherlaufen? Im Zug hatte ich mit einer Frau aus Vilnius gesprochen, was ziemlich nah an der Grenze zu Belarus liegt. Sie erzählte, dass der Kriegsausbruch ein Schock gewesen sei, dass sie in der Familie sofort alle Pässe verlängern ließen, überlegten, wohin sie fliehen und was sie mitnehmen würden. Dieses Panikgefühl hielt etwa ein halbes Jahr an, danach sackte es langsam weg. Man kann nicht ständig in so einer stressvollen Situation leben.

Während der langen Busfahrt von Vilnius über Riga nach Tallinn, mehr als 600 km, dachte ich oft an den sogenannten Baltischen Weg, eine Kette von 1 Million Menschen, die am 23. August 1989 entlang dieser Straße friedlich für die Unabhängigkeit demonstrierten. Was für einen Eindruck das immer noch auf mich macht. Eine ununterbrochene Menschenschlange, 600 km lang, Hand in Hand, überwältigend! Und was für eine Organisation das gewesen sein muss. Sie wird auch die „Singende Revolution“ genannt. Gesangs- und Tanztraditionen wurden damals wiederentdeckt, in Estland z.B. findet derzeit alle fünf Jahre ein großes Liederfest statt.

In Tallinn leben mehr als 430.000 Menschen. Im 15. Jahrhundert war die Stadt von einer Mauer mit 46 Türmen umgeben, 26 davon stehen noch. Der alte Stadtkern ist nahezu vollständig erhalten und gehört seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Dieses Jahr ist Tallinn übrigens European Green Capital. Es ist eine Stadt, die einen „umarmt“, es herrscht eine helle, ungezwungene Atmosphäre. Die Menschen hier wirken offener und gesprächiger als in Litauen. Auf der Busfahrt von Šiauliai nach Vilnius, die 4 Stunden dauerte, war es im Bus fast die ganze Zeit ohrenbetäubend still. Nachdem ein Mädchen, so zwischen 20 und 25 schätze ich, sich neben mich setzte und meine Frage, ob sie Englisch spricht, mit yes beantwortete, saß sie den Rest der Reise wie eine Statue neben mir, wirklich ungelogen! Nur an ihren Fingern, die mit den Griffen ihrer Tasche spielten, konnte ich erkennen, dass sie ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Vielleicht stand sie Todesängste aus, dass ich ein Gespräch anfangen wollte. Die Menschen in Litauen wirken zurückhaltend oder distanziert, aber vielleicht ist das auch Schüchternheit. Man nimmt nicht einfach so Kontakt miteinander auf, sie schauen einen ein bisschen befremdet an, wenn man grüßt… „Kennen wir uns?“ Meine Eindrücke gründen sich natürlich nur auf ein paar Tagen und kurzen Begegnungen. Ich habe einmal zwei junge Mädchen danach gefragt, sie haben es bestätigt. Vielleicht redet man in Litauen einfach nicht so viel. Soweit ich mich erinnern kann, entstanden alle Gespräche auf meine Initiative hin.

Ich fand Vilnius übrigens auch eine schöne und interessante Stadt. Bin dort einen Tag lang herumgelaufen, mit einer ‚Free map made by locals’ in der Hand. Es gibt z.B. einen Bezirk im Osten, Užupis, eine kleine Scheinrepublik, die von litauischen Künstlern gegründet wurde. Sie verfügt über eine eigene Regierung, eine 12-köpfige Armee, einen Unabhängigkeitstag am 1. April und eine eigene Verfassung, die auf Tafeln in 41 Sprachen angeschlagen sind. Der Grundton ist Freundlichkeit. Kreativ, inspirierend, witzig, gefällt mir.

Noch ein Wort zu den Hostels hier. Ich hatte mittlerweile mehrere, allesamt Hostels, in denen ich mich wohl fühle. Einfach (manchmal wirken sie von außen sogar etwas zwielichtig), umtriebig oder ruhig, unkompliziert, mit voll ausgestatteter Küche, preiswert, immer nette Leute an der Rezeption. Es funktioniert nicht immer alles, aber meistens macht es nicht so viel aus, außer ein Stromausfall zum ungünstigen Zeitpunkt... In Vilnius übernachtete ich im Rock'n Hostel (ja, auf jeden Fall empfehlenswert), in Šiauliai in einer wunderbar altmodischen Herberge mit knarrenden Fußböden, Toilette und Dusche gegenüber meinem Zimmer, ein älterer asthmatischer Mann, der mich nicht versteht, und den ich nicht verstehe. Er ruft eine Frau an, die englisch kann, mit der ich dann am Telefon kurz und schmerzlos alles bespreche. An der Rezeption ist nie jemand. Als ich nach zwei Tagen gehe, sehe ich zufällig ein verstaubtes Gästebuch in einem versteckten Regal. Habe Lust, was Nettes reinzuschreiben. Der letzte Eintrag war von 2018. Kein Wunder, niemand sieht das Gästebuch, und niemand liest es wahrscheinlich. Egal :-)

Noch was Witziges zum Schluss, fast ein kleines Theaterstück... Ich war (noch immer in Tallinn) in einem Kunstmuseum, und musste meine Kontaktlinse herausnehmen. Setzte mich auf einen Stuhl, Hand darunter, Linse heraus. Etwas, das ich schon oft gemacht habe, aber jetzt... Linse weg! Nicht bewegen, erst genau hinschauen… nichts zu sehen. Bald standen drei Museumswärterinnen um mich herum und suchten tiefgebeugt den Boden ab. Ich vermutete, dass die Linse in meiner Kleidung verschwunden war, irgendwo zwischen Shirt und Hose. Toilette war weit weg, eine der Damen führte mich nebenan in einen Raum, in dem ein Schreibtisch mit Malutensilien stand, ganz normal zur Ausstellung gehörend. Hier hinter dem Schreibtisch könne ich in meinen Kleidern nachschauen (die Ausstellung war nicht so stark besucht). Ich also vorsichtig und konzentriert meine Hose ausgezogen, nichts ... Und kurz darauf kam dieser Engel von einer Wärterin und präsentierte mit einem stolzen Lächeln meine Linse in ihrer Handfläche! Ein köstliches Bild, stelle ich mir so vor. Es kommt doch immer alles gut…

Viele liebe Grüße von mir!

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